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Brahms sei Dank!

Die Klarinettenkompositionen Bruchs und Brahms im Kontext musikgeschichtlicher Entwicklungen


Max Bruchs Klarinettenkompositionen spielen sicherlich innerhalb seines Spätwerks aber auch innerhalb seines gesamten kammermusikalischen Schaffens eine zentrale Rolle. Seine Beschäftigung mit der Klarinette als Soloinstrument wurde möglicherweise durch eine in Vergessenheit geratene, von ihm selbst autorisierte Bearbeitung seiner Cello-Canzone op. 55 von 1890 begründet. Dieses Arrangement wurde von Traugott Gentzsch, seinerzeit Soloklarinettist des Gewandhausorchesters in Leipzig und Professor der Leipziger Musikhochschule, angefertigt und wenige Monate vor dem Erscheinen des Brahmsschen Trios op. 114 und des Quintetts op. 115 bei Breitkopf und Härtel veröffentlicht. Abgesehen von dieser bisher eher wenig beachteten Bearbeitung gehören insbesondere seine Acht Stücke op. 83 zu den wenigen Kammermusikwerken Bruchs, die seit der Komposition um 1908 sehr häufig in verschiedenen Besetzungen aufgeführt (die Stücke wurden in einer Frühfassung bei einer ersten Aufführung in Bonn teils mit Klarinette, Viola und Harfe gespielt) werden. Bruchs späte Beschäftigung mit der Klarinette soll im Folgenden erklärt werden; steht diese doch auch in engem Zusammenhang mit der musikgeschichtlichen Entwicklung der Holzblasinstrumente:


Die Klarinette ist das jüngste Holzblasinstrument des Orchesters und das 19. Jahrhundert wird auch gerne und sehr euphorisch als das "Goldene Zeitalter" dieses Instruments bezeichnet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte die konzertante Sololiteratur für die Klarinette eine Blüte: Zahlreiche Virtuosen komponierten entweder selbst Werke für die Klarinette als eigene Gebrauchs- oder Unterhaltungsmusik oder pflegten eine enge Verbindung zu einem Komponisten, der sie mit neuen Konzerten und Solostücken bedachte. Werke wie zum Beispiel Carl Maria von Webers Klarinettenkonzerte, die für den Virtuosen Heinrich Josef Baermann komponiert wurden, Louis Spohrs vier Klarinettenkonzerte (Simon Hermstedt gewidmet) sowie Kompositionen von Franz Krommer und dem finnischen Komponisten Bernhard Henrik Crusell wurden in der kurzen Zeitspanne von etwa 1809 bis 1820 komponiert.


Besonders auffällig ist, dass eine echte, im Kammermusik-Ensemble integrierte Rolle für das Instrument in dieser Zeit noch nicht (oder nur selten) existierte. Selbst kleiner besetzte, "kammermusikalische" Werke weisen oft eine konzertante Form auf bzw. exponieren lediglich die virtuosen, solistischen Fähigkeiten der Klarinette. Ein sehr gutes Beispiel für diese Beobachtung ist das Klarinettenquintett von Carl Maria von Weber, das die blendende Virtuosität der beiden Konzerte nun auf eine kleinere Besetzung übertrug.

Abgesehen von der sehr gehaltvollen Klarinettenkammermusik Mozarts, den beiden Trios op. 11 und op. 38 von Beethoven, dem 'Grand Duo' von Weber sowie den Charakterstücken Schumanns, Mendelssohns, (Charles) Stanfords und (Niels Wilhelm) Gades scheint interessanterweise die Klarinette (abgesehen von einigen Beiträgen weniger bekannter Komponisten wie Gouvy, Winding, Draeseke, Verhey, Rheinberger etc.) bis etwa 1880 keine ernsthafte Rolle in der Sonaten- und Kammermusikliteratur einzunehmen – und das, obwohl sie heute aus dem romantischen Orchester nicht mehr wegzudenken ist. Auch das bisher die Klarinettenmusik bestimmende Virtuosentum kommt in der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam aus der Mode. So schreibt der Rezensent Eduard Hanslick in einer Konzertrezension des italienischen Klarinettisten Romeo Orsi 1870:

"Geh ins Orchester! Das ist der Platz, auf dem wir den Klarinett-, Flöte-, und Fagottspieler zu schätzen wissen; Über die Zeit wo diese Künstler scharenweise gereist kamen und Concerte auf ihrem langweiligen Einzelrohr abliesen sind wir hinüber".¹

Auch der Musikwissenschaftler Philipp Spitta, ein guter Freund Max Bruchs, äußert sich noch 1889 im Grove's Dictionary wie folgt:

"Wind-instruments are now out of fashion for concert-playing, and one seldom hears anything on such occasions but the piano and violin (...)"

Gründe für die sich verändernde musikalische Rolle der Holzblasinstrumente in jener Zeit sind sicherlich auch die zahlreichen unterschiedlichen Stimmungen, mit denen die Interpreten zu kämpfen hatten. Aus diesem Grund hatte die 1859 von der Pariser Akademie beschlossene, schleichende Einführung einer standardisierten Stimmtonhöhe von 435 Hz einen wichtigen Einfluss auf die Musizierpraxis der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da bis dahin zum Teil nicht nur unterschiedliche, sondern auch weitaus höhere Stimmungen üblich waren, zum Beispiel A=466 Hertz an der Wiener Oper (1861), 451 Hertz an der Mailänder Scala, und sich die Blasinstrumente mechanisch noch an Modellen vom Beginn des Jahrhunderts orientierten, war deren Anpassung auf den neuen Stimmton quasi unmöglich. Die somit erforderlichen Neubauten aller Holzblasinstrumente ermöglichten einen echten Technologiesprung im Blasinstrumentenbau dieser Zeit.

Richard Wagner war es schließlich, der sich 1861 für die Umsetzung der neuen, tieferen Stimmung in deutschen Orchestern starkmachte. Den Protagonisten seiner Tetralogie "Der Ring des Nibelungen" waren Stimmtonhöhen von weit über 440 Hertz nicht zumutbar und auch das Bayreuther Orchester, das sich bis heute Musikern verschiedener Klangkörper bedient, brauchte eine einheitliche Stimmtonhöhe.

Für Instrumentenbauer wie Johann Georg Ottensteiner² aus München waren die Stimmtonveränderungen auch von wirtschaftlichem Vorteil. Ottensteiner entwickelte 1860 ein neues Klarinettenmodell, das zwar auf dem in Deutschland etablierten Griffsystem von 1812 (nach Iwan Müller) fußte, jedoch durch eine neue Mechanik, veränderte Bohrung und verbesserte Fingerlochpositionen glänzte und schnell eine weite Verbreitung fand. Durch die Möglichkeit einer für die Intonation korrekten und dennoch ergonomischen Tonlochposition konnten bis dahin gebräuchliche, umständliche Hilfsgriffe wegfallen, was enorm zur Stabilität der Intonation beitrug³. Noch heute fußt das deutsche Klarinettengriffsystem wesentlich auf den Verbesserungen Georg Ottensteiners.

Carl Baermann, Sohn von Webers befreundetem Interpreten Heinrich Baermann und selbst ein herausragender Klarinettist und Pädagoge, warb in seiner 1860/1861 erschienenen Klarinettenschule für die neu entwickelten Münchner Holzblasinstrumente:

"Da trat der Königlich-bayerische Hofmusikus Theobald Böhm mit seiner neuen Flöte auf und gab durch sein System eine ganz neue Richtung an. Demselben bin ich nun selbst nach unparteiischster Prüfung aller neuen Erfindungen aus innerster Überzeugung soweit gefolgt, als ich es ohne Nachteil für den Charakter des Instrumentes und ohne, dass das früher Leichte erschwert wurde, anwenden konnte. So ist nun die Klarinette mit Hilfe des wirklich ausgezeichneten und fachmännisch gebildeten Instrumentenmachers Georg Ottensteiner in München in der Form entstanden, wie sie nachstehend abgebildet steht. Ein vollkommenes Instrument mit absolut reiner Stimmung gibt es ebensowenig, als es möglich wäre, ein in dieser Beziehung vollkommenes Klavier herzustellen und abzustimmen. Dies wird jeder Musiker einsehen, der den Unterschied zwischen einem Kreuz und einem B kennt, denn das Cis ist z.B. als große Terz von A-Dur sehr verschieden von Des, als der kleinen Terz von B-moll."⁴

Tatsächlich erwarb auch die Meininger Hofkapelle, der auch der Klarinettist Richard Mühlfeld ab 1874 angehörte, einige Klarinetten, Flöten und Fagotte aus der Münchner Werkstatt Ottensteiners. Mühlfeld⁵, ein Ausnahmemusiker, der zunächst auch als Geiger im Orchester tätig war und 1876 bei der ersten Ringaufführung die Soloklarinette spielte, musizierte mit den Instrumenten Ottensteiners bis zu seinem Tode im Jahr 1907. Sein Spiel zog die prominentesten Zeitgenossen förmlich in den Bann:

Franz Liszt verglich das tonschöne Spiel Mühlfelds mit "dem Biss in einen reifen Pfirsich" (nach Pamela Weston, Clarinet Virtuosi of the Past, London 1971) und auch Richard Wagner sagte dem damals 22-jährigen in einem Empfehlungsschreiben an Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen eine große musikalische Zukunft voraus:

"Herr Richard Mühlfeld hat kürzlich unter meiner Leitung mehrere symphonische Stücke, mir als besonders begabter Musiker sich bekannt gemacht, so dass ich – wie ich dies bei jener Gelegenheit nicht anders konnte – so auch jederzeit seinem vorzüglichen Talent gerne lautes Zeugnis gebe."⁶

Und selbst Johannes Brahms, der nach der Komposition seines zweiten Streichquartetts op. 111 bereits angekündigt hatte, mit dem Komponieren aufhören zu wollen, revidierte diesen Entschluss, nachdem er Mühlfeld in Meiningen kennengelernt hatte. Brahms war von dessen Spiel so angetan, dass er in den Jahren 1891 bis 1894 mehrere meisterhafte Kammermusikwerke für die Klarinette komponierte, die bis heute zu dem Wertvollsten gehören, was es für die Klarinette gibt. Brahms enthusiastischer Brief an Clara Schumann vom Juli 1891 zeugt von seiner tiefen Bewunderung für den Klarinettisten:

"Du hast keine Idee von einem Klarinettisten wie dem dortigen Mühlfeld. Er ist der beste Bläser überhaupt, den ich kenne! Man kann nicht schöner Klarinette blasen! Allerdings ist diese Kunst aus verschiedenen Gründen sehr zurückgegangen. Im Orchester sind die Bläser in Wien und mancherorten recht und sehr gut, aber an ihnen allein hat man keine rechte Freude. Den Mühlfeld zu hören wäre Dir ein Erlebnis, ein Gaudium!"⁷

Die letzte Partiturseite der zweiten Klarinettensonate mit Brahms' Widmung


1891 arbeitete Brahms zeitgleich an seinem Klarinettentrio in a-moll und dem großen Quintett op. 115 (welches alsbald in einer von Brahms autorisierten Klavierbearbeitung von Paul Klengel bei Simrock erschien). Das Trio wurde von Brahms, Mühlfeld und dem bekannten Cellisten Robert Hausmann im österreichischen Bad Ischl uraufgeführt, während die späten Sonaten op. 120, Brahms tatsächlich letztes Kammermusikwerk, ihre Uraufführung drei Jahre später in Berlin im Rahmen eines Hauskonzerts erlebten. Auch die zu Beginn des Artikels erwähnte Canzone von Max Bruch wurde in der Originalfassung für Cello und Klavier (oder Orchester) dem Cellisten Robert Hausmann⁸ gewidmet.

Brahms wundervolle neue Klarinettenkompositionen, gepaart mit dem berührenden Spiel des Ausnahmemusikers Richard Mühlfeld, lösten in der Folgezeit einen internationalen "Klarinettenboom" aus. Es schien, als hätte die Klarinette "über Nacht" einen vollkommenen Imagewandel erlebt und sie wurde unverzüglich zu dem Instrument der romantischen Kammermusik erklärt. Der amerikanische Komponist und Schriftsteller Daniel Gregory Mason schreibt:

"The clarinet is no less romantic in expression and luscious in tone color than the horn, while far more various in tone and flexible in articulation. It rivals indeed the violin in tone color in different registers and equals the piano in flexibility, adding a certain indescribable sort of voluble neatness peculiar to itself."⁹

Mühlfeld musizierte neben seiner Orchestertätigkeit in unzähligen Kammermusikrezitalen in ganz Europa. Während seiner Laufbahn führte Mühlfeld das Klarinettenquintett von Brahms 126 Mal, das Klarinettentrio 54 Mal, die erste Klarinettensonate 48 Mal und die zweite 32 Mal auf. Solistisch trat er innerhalb von 31 Jahren in 654 Kammerkonzerten in 138 Orten auf. Er wurde zum lebendigen Mythos und so wundert es auch nicht, dass der Musikkritiker Max Kalbeck nach einer Aufführung des Brahms-Trios 1892 schreibt:

"Von ihm [Mühlfeld, d. Verf.] geht die Sage, dass er eine Kollektion unsterblicher Rohrblättchen besitze, die aus dem Schilfrohr der von Pan geliebten, von Gäa verwandelten Nymphe Syrinx geschnitten sein sollen. Ein Stück der Hirtenflöte, mit welcher der Waldgott auf seiner Geliebten oder auf seine Geliebte gepfiffen hat – die Lesarten lassen sich beide verteidigen – steckt jedenfalls in dem Blasinstrument des Herrn Mühlfeld; sonst könnte er nicht solche zauberischen Klänge daraus hervorbringen."¹⁰

Der umfangreiche Pressespiegel der Familie Mühlfeld¹¹ dokumentiert seine großen Erfolge und sein hohes Ansehen als Kammermusiker. So schreibt beispielsweise die Kölnische Zeitung am 12. Juli 1906 über ein Konzert Mühlfelds:

"Die vornehme Schönheit seines Tones, die mühelose ausgezeichnete Technik, ein durchaus romantisches Empfinden, das wie das Rubato in Chopins Sinn nie die Grundordnung des Taktes aufhebt, vor allem auch Mühlfelds überlegene musikalische Intelligenz riefen unter den Zuhörern ungemischte Freude hervor."

Viele wichtige Kammermusikwerke stammen aus genau dieser Zeit und beleben alle Kammermusikgattungen der Klarinette wie Quintett, Trio und Sonate. Zu den zentralen Werken dieser romantischen Tradition zählen unter anderem die Kompositionen von Charles Stanford, Max Reger, Alexander von Zemlinsky und eben die von Max Bruch. Zum Teil sind diese Werke sogar Mühlfeld ganz persönlich gewidmet. Mühlfeld verstarb unerwartet im Alter von nur 51 Jahren im Jahr 1907 und hinterließ bedauernswerterweise keine Aufnahmen; allerdings sind einige Einspielungen von seinem Nachfolger am Meininger Hof, Philipp Dreisbach (1891-1980), erhalten. Wie Mühlfeld war Dreisbach ursprünglich ein Streicher: ein Cellist, der auf die Klarinette umsattelte, und mit einem ausgesprochen deutlichen Vibrato musizierte. Seine wenigen Aufnahmen enthalten Mozarts Quintett KV 581 sowie das Scherzo aus Regers Klarinettenquintett mit seinen Widmungsträgern, dem Wendling-Quartett. Der aus der feinen Holzbläsertradition der Meininger Hofkapelle stammende Dreisbach vermittelt den heutigen Hörern vielleicht eine vage Ahnung von Mühlfelds inspirierendem Spiel. Die erste dokumentierte Einspielung der Brahmsschen Sonaten stammt hingegen vom englischen Bratscher Lionel Tertis:

Eine der ersten Aufnahmen des Quintetts op. 115 kann man mit Charles Draper, dem späteren Widmungsträger des Stanford-Klarinettenkonzerts (a-moll, op .80), hier bewundern:


Die Brahms'schen Klarinettenstücke hatten in ihrer strukturellen, klanglichen und formalen Konzeption offensichtlich so eine starke Modellwirkung, dass viele Komponisten wie etwa diesem Vorbild unmittelbar nacheiferten. Nicht nur zufällig erfreuen sich Klarinettenkompositionen von Brahms Zeitgenossen oft ähnlichen Tonarten wie a-moll, h-moll und – ganz wie bei Brahms – der Verwendung der dunkleren A-Klarinette. Ein wesentliches Stilelement des Klarinettenquintetts op. 115, der ungarisch-rhapsodische Stil (dazu empfehle ich den hervorragenden Artikel von Jonathan Bellman: 'Performing Brahms in the style hongrois' erschienen in "Performing Brahms - early evidence of performance style' Cambridge University Press 2003, sowie Colin Lawsons spannendes Buch über das Brahms Quintett op. 115), findet sich ebenfalls in nahezu allen Folgekompositionen wieder.

So schildert beispielsweise eine kleine Anekdote aus der Feder von Adalbert Lindner - Regers Klavier- und Orgellehrer - sehr anschaulich, wie Max Reger den Zugang zur Klarinette fand:

"In Weiden besaßen wir damals einen vorzüglichen Klarinettisten, den städtischen Kapellmeister Johann Kürmeyer, mit dem ich manche Stunde musizierte. Dessen Können war von vollendeter künstlerischer Reife, da er nach mehrjähriger Betätigung als Soloklarinettist in einer Regimentskapelle auch noch zwei Jahre lang die musikalische Akademie in München besucht hatte zwecks höchster Ausbildung auf seinem Instrument. Mit Kürmeyer spielte ich nun eines Tages in meiner Behausung die Klarinettensonate op. 120 in f-Moll von Brahms, eines der allerletzten und reifsten Werke des Meisters. Während des Spieles trat Reger ins Zimmer, hörte uns zu und sagte, nachdem wir geendet: 'Schön, ich werde auch zwei solche Dinger schreiben!'¹²

Während Max Reger das Glück hatte, den Klarinettisten Richard Mühlfeld persönlich kennenzulernen, ist es derzeit nicht nachweisbar, ob sich Max Bruch und Mühlfeld ebenfalls persönlich kannten. Die Vielzahl gemeinsamer Bekannter und Freunde aus Bruchs Thüringer Zeit legen dies jedoch nahe. Ein von Christopher Fifield erwähnter Briefwechsel zwischen Bruch und Fritz Steinbach¹³, dem langjährigen Dirigenten des Meininger Orchesters, ist vermutlich beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs verloren gegangen. Dieser Briefwechsel hätte den Kontakt zwischen Bruch und dem berühmten Klarinettisten eventuell bestätigen können, denn Steinbach war seit 1886 ein enger Freund und Förderer Mühlfelds.

Aufgrund seiner genauen Kenntnis der Mühlfeldschen Könnerschaft, dürfte das Urteil Steinbachs über das Klarinettenspiel von Bruchs Sohn, Max Felix Bruch, für den Vater auch eine besondere Freude gewesen sein. Denn laut Fifield¹⁴ teilte Steinbach seinem Freund Max Bruch mit, dass sich das Spiel seines Sohnes mit dem von Richard Mühlfeld vergleichen ließe und dass "[s]ein Ton und seine Phrasierung ganz klar [seien]".

Max Felix¹⁵, Bruchs ältester Sohn, war selbst auch Klarinettist und Komponist und begann etwa 1903 sein Studium bei dem damals angesehen Klarinettenprofessor Oskar Schubert¹⁶ in Berlin. Sowohl die Acht Stücke op. 83 als auch das Doppelkonzert in e-moll op. 88 sahen Max Felix als Klarinettisten vor. Auch diese Werke stehen zweifellos in der Nachfolge von Brahms Klarinettenstücken, auch wenn die Paarung mit Bratsche an frühere Kammermusikbeiträge Mozarts (Kegelstatt Trio KV 498) und Schumanns (Märchenerzählungen) erinnert. Glücklicherweise haben sich die Acht Stücke Bruchs bis heute erfolgreich in den Kammermusikprogrammen erhalten. Verantwortlich könnten hierfür insbesondere die von Bruch selbst erarbeiteten Alternativbesetzungen dieser reizvollen Miniaturen sein. Auch wenn sich die von Bruch zuerst konzipierte Fassung für Klarinette, Bratsche und Klavier inzwischen etabliert hat, so wäre dennoch auch eine Aufführung mit regulärem Klaviertrio oder mit einer Paarung aus Violine, Bratsche und Klavier denkbar.

Leider hatte das späte Doppelkonzert des damals 73-Jährigen nicht das Glück, sich so lange im Konzertbetrieb zu halten wie die bereits erwähnten Acht Stücke. So war sicherlich die mit Klarinette und Bratsche äußerst ungewöhnliche Solistenbesetzung¹⁷ und das etwas eigentümliche Szenario bei der Uraufführung¹⁸ – "vor allen Admirälen und Seekapitänen etc. etc. unserer Kriegsflotte¹⁹" – mit einer in Wilhelmshaven ansässigen Militärkapelle²⁰ der Rezeption des urromantischen, lyrischen Werks nicht gerade zuträglich. Bruchs aggressive Haltung gegenüber vielen seiner angesehenen Zeitgenossen sowie sein 1911 als durchaus "unmodern" empfundener Kompositionsstil drängten ihn in dieser Zeit noch weiter ins Abseits. Eine Rezension der zweiten und vermutlich letzten Aufführung des Doppelkonzerts (das in der Zwischenzeit einige Korrekturen und leichte Umarbeitungen erhalten hatte) unter der Leitung von Prof. Leo Schrattenholz²¹ vom 3. Dezember 1913 in der Berliner Musikhochschule schildert, wie sehr das Werk den musikalischen Zeitgeist verfehlte.

Rezension von Dr. Kurt Singer:

(...) Die Novität des Abends war Max Bruchs Konzert für Klarinette und Bratsche, das in privatem Kreise schon früher einmal zum Vortrag gekommen war. Die Zusammenstellung der beiden Instrumente ist eine nicht unglückliche, in den tiefen Lagen haben sie beide etwas Gleichklingendes. Nur müssen dann auch die technischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, daß ein Instrument das andere ergänzt, fördert, belebt. Das ist in diesem Bruchschen Werk nicht der Fall. Man hört die Bratsche, die als Dienerin der Klarinette auftritt, kaum, man würde sie auch dann nicht hören, wenn ein resoluterer Spieler als Benno Schuch²² sie striche. Die Klarinette, von Felix Willy Bruch sauber und klangschön gespielt, dominiert allzu sehr, ihr kamen die melodiösen Einfälle des Stückes allein zustatten. Man täte Bruch unrecht und setzte den Wert seiner anderen Konzerte herab, wollte man, nur aus Respekt vor seiner unantastbaren Stellung im Musikleben der Gegenwart, diese Novität als schön, gediegen und vollwertig hinstellen. Es fehlt die alte Bruchsche Ader für den Fluß schöner Melodien, es fehlt die kurzweilige Unterbrechung durch episodische Einfälle, es fehlt die notwendige Folge der Gedanken. Das Werk ist harmlos, unaufregend, zu vornehm in der Zurückhaltung; es wirkt unoriginell und zeigt keine Meisterzüge. Der recht freundliche Beifall galt der Person Max Bruchs, der sich dankend verneigte, galt dem Schöpfer der Violinkonzerte und Messensätze, nicht diesem Werk. (...)"²³

Zweifellos prallten in dieser Zeit so viele musikalische Stile aufeinander, wie vielleicht niemals zuvor. Stravinskys Le Sacre du Printemps erlebte nur wenige Monate vor der Berliner Aufführung des Doppelkonzerts seine skandalöse Uraufführung, Debussys und Scriabins Klaviermusik stand in der Blüte und frühe Formen des Jazz entwickelten sich ebenfalls zur selben Zeit wie etwa die zweite Wiener Schule. Alban Bergs frühe Klarinettenstücke op. 5 und Debussys Rhapsodie stammen beispielsweise aus annähernd der selben Zeit wie Bruchs Doppelkonzert. Mit einem Abstand von etwas mehr als hundert Jahren wird man wohl bei unvoreingenommenem Zuhören insbesondere das Doppelkonzert, aber auch andere zentrale Kompositionen des Bruch'schen Spätwerks, etwas wohlwollender beurteilen können. Beim unvoreingenommenen Zuhören von Bruchs op. 88 erkennen wir ein hochromantisches Werk in „farbiger, temperamentvoller Melodienfülle“²⁴, das es verdient hat, aus seinem bisherigen Schattendasein herauszutreten. Zudem stellt die ungewöhnliche Besetzung des Solistenpaars meines Erachtens für Klarinettisten wie auch für Bratscher eine charmante und attraktive Bereicherung des romantischen, konzertanten Solorepertoires dar.

Brahms sei also Dank – nicht nur für seine eigenen fantastischen Kompositionen für mein Instrument, sondern eben auch für die Inspiration seiner Kollegen, Schüler und musikalischen Nachfolger, die so viele wundervolle, interessante Werke geschaffen haben. Nicht alle Werke dieser Zeit sind musikgeschichtlich wertvoll, aber dennoch ist es ihnen gelungen, die Klarinette aus ihrem kammermusikalischen Dornröschenschlaf zu erwecken. Ein Effekt, der glücklicherweise bis heute anhält und Komponisten wie Interpreten gleichermaßen inspiriert.


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[1] E. Hanslick: Geschichte des Concertwesens in Wien: Aus dem Konzertsaal. Band 2, Seite 397. Wien 1870

[2] Holzblasinstrumentenbauer (1815-1879)

[3] Maren Goltz/Herta Müller: Richard Mühlfeld der Brahms-Klarinettist, Artivo music publishing, Balve 2007

[4] Carl Bärmann: Clarinett-Schule op. 63 I. Teil, I. Abteilung: S. 1 Offenbach 1860

[5] Richard Mühlfeld wurde als vierter Sohn des Salzunger Stadtmusikus Leonhard Mühlfeld, am 28. Februar 1856 geboren. Bei seinem Vater und den älteren Brüdern erhielt er ersten Unterricht auf der Violine, dem Klavier und der Klarinette. Schon als Kind und Jugendlicher trat er als Geiger und Klarinettist auf, leitete Proben und arrangierte Stücke. Daneben sang er im Salzunger Kirchenchor. Mühlfeld war ein Autodidakt auf der Klarinette, hatte sich also im Selbststudium ohne eine offiziell anerkannte Ausbildung mit qualifizierendem Abschluss fortgebildet. 1873 trat er als Geiger in die Meininger Hofkapelle ein, wurde aber auch als Klarinettist eingesetzt. Nach seinem dreijährigen Militärdienst, den er als Soloklarinettist in der Regimentskapelle leistete, übernahm er 1879 die Erste Klarinette in der Hofkapelle. Für Mühlfelds weitere musikalische Laufbahn wurde durch das 1880 erfolgte Engagement Hans von Bülows als Intendant der Meininger Hofkapelle die Basis gelegt. 1881 heiratete Mühlfeld die Salzunger Fleischermeistertochter Minna Seyfert, mit der er zwei Kinder hatte. Herzog Georg II. ernannte Mühlfeld 1883 zum Kammervirtuosen und 1890 zum Musikdirektor. Von 1884 bis 1896 gehörte Mühlfeld als Soloklarinettist auch dem Bayreuther Festspielorchester an. Neben seinen vielfältigen Aktivitäten im orchestralen Bereich, der zeitweisen Leitung eines Meininger Männergesangvereins und der Tätigkeit als Klavierlehrer absolvierte Mühlfeld eine bemerkenswerte solistische Karriere.

[6] vgl. Goltz, Maren / Herta Müller: Richard Mühlfeld der Brahms Klarinettist. Balve 2007

[7] Clara Schumann – Johannes Brahms, Briefe aus den Jahren 1853–1896 , hrsg. von Berthold Litzmann, Leipzig , Bd. II, S. 456

[8] Robert Hausmann (1852–1909) war einer der bekanntesten deutschen Cellisten und Hochschullehrer. Hausmann war Mitglied des Joachim Quartetts und ein enger Freund von Johannes Brahms, der ihm zum Beispiel seine zweite Cellosonate in F-Dur op. 99 widmete.

[9] Daniel Gregory Mason: The chamber music of Brahms. S. 220, New York 1933

[10] Max Kalbeck: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915, S. 233

[11] Mühlfelds Bruder Christian, Herzoglicher Kirchenmusikdirektor und akribischer Chronist Meininger Musikgeschichte, listete sämtliche solistischen Auftritte in Kammermusik-und Orchesterkonzerten auf. Innerhalb von 31 Jahren zählte er 645 Konzerte in 138 Orten.

[12] Adalbert Lindner: Max Reger. Ein Bild seines Jugendlebens und künstlerischen Werdens, Stuttgart 1923, S. 218

[13] Fritz Steinbach (1855-1916). Steinbach war ein deutscher Dirigent und Komponist. Nach seinem Wirken in Meiningen wechselte er 1903 zum Gürzenich-Orchester nach Köln und wurde zum Direktor des Kölner Konservatorium.

[14] Christopher Fifield ist der Autor der exzellenten Biografie: Max Bruch - His Life and Works, London: George Braziller, 1988.

[15] Max Felix Bruch (1884–1943) studierte zunächst Komposition bei seinem Vater in Berlin und Klarinette bei Prof. Oskar Schubert. Als Studierender erhielt er zahlreiche Stipendien wie z. B. das Mendelssohn-Stipendium. Später startete er eine Karriere als Klarinettist und Dirigent. Frustriert vom übermächtigen Vorbild seines Vaters arbeitete er später bei einem Schallplatten-Unternehmen. Er fiel im zweiten Weltkrieg.

[16] Prof. Oskar Schubert (1849–1935) ist uns heute noch als Herausgeber einer weit verbreiteten Ausgabe von Carl Bärmanns Klarinettenschule (Johann André, Offenbach 1917) bekannt.

[17] Bruch plante wohl auch die Einrichtung der Bratschenpartie für eine Viola d’armore. Ebenso ist die Orchestrierung der Werks unkonventionell: Das Werk beginnt in einer Kammermusikbesetzung, fügt jedoch in jedem Satz weitere Bläser hinzu.

[18] Die Uraufführung des Doppelkonzerts erfolgte am 5. März des Jahres 1912 mit Max Felix zusammen mit Bruchs langjährigem Freund, dem Geiger Willy Hess (1859–1939). Hess war ein deutscher Violinist und Violinprofessor an der Berliner Hochschule für Musik.

[19] Brief an Schrattenholz vom 1. Februar 1912, im Besitz des Max-Bruch-Archivs Köln.

[20] Der Name der Kapelle sowie des Dirigenten der Uraufführung sind z. Zt. nicht bekannt.

[21] Leo Schrattenholz (1872–1955) trat im Berliner Musikleben als Violoncellist, Pianist und Dirigent des Symphonie-Vereins (Orchestergesellschaft) hervor. Prof. Schrattenholz, selbst Schüler von Max Bruch, war an der Berliner Musikhochschule bis 1935 Lehrer für Theorie und Cellospiel.

[22] Zitiert nach Ewald Bruch: “Werner Schuch, ein in Berlin lebender österreichischer Geiger, als guter Ensemblespieler bekannt.”

[23] Allgemeine Musikzeitung Nr. 50, Berlin 1913: Rezension von Dr. Kurt Singer

[24] Ewald Bruch: „Max Bruchs Doppelkonzert für Klarinette, Bratsche und Orchester, op. 88“, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte. Heft 9/10, 1957

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